C. Duttlinger: Attention and Distraction in Modern German Literature

Cover
Titel
Attention and Distraction in Modern German Literature, Thought, and Culture.


Autor(en)
Duttlinger, Carolin
Erschienen
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 104,15
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Stiegler, Universität Konstanz

Das Thema der Aufmerksamkeit ist spätestens seit Jonathan Crarys gleichnamigem Buch unübersehbar in den Fokus der kulturwissenschaftlichen Forschung gerückt.1 Während sich Crary allerdings auf die Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundes konzentrierte und versucht hat, zwischen Kunst und Psychologie pendelnd, Normen und Dispositive der Modernisierung von Subjektivität herauszupräparieren, haben jüngere Studien dann vor allem das 20. Jahrhundert in den Blick genommen. Und während Crary ein extrem breites Panorama eröffnet, interessieren sich die Forschungen der letzten Jahre für einzelne Wissenschaftsfelder wie etwa die Psychophysik, die Psychologie, die Arbeits-, Kognitions- und auch die Medienwissenschaft. An die Stelle eines eher essayistischen Zugriffs seitens des amerikanischen Kulturwissenschaftlers traten weiterhin minutiöse materialgesättigte Studien zu eher eng umrissenen Feldern.2 Das Feld ist daher durchaus kartiert. Was hingegen bislang fehlte, ist eine breit angelegte interdisziplinäre Darstellung der verschiedenen Diskurse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, in der dieses Thema in den unterschiedlichsten Feldern virulent war und auch öffentlich breit diskutiert wurde. Das Buch von Carolin Duttlinger schließt diese Lücke, indem sie das Thema der Aufmerksamkeit (und der mit ihr ihr korrespondierenden Zerstreuung) in der gebührenden Breite rekonstruiert und dabei sehr unterschiedliche Stimmen aufruft und diverse Aspekte in den Blick nimmt.

Der historische Fokus des Buchs von Carolin Duttlinger liegt in der Moderne und hier insbesondere in der Weimarer Republik, auch wenn sie zu Beginn und am Ende jeweils weitere Zeitfenster öffnet. Duttlinger zeigt auf überzeugende Weise, wie weit in dieser Zeit die Frage nach Aufmerksamkeit reicht und wie tief die Sorge um sie. Aufmerksamkeit und Zerstreuung waren, wie Duttlinger nachdrücklich herausarbeitet, regelrechte Insignien der Moderne und Figuren ihrer Selbstreflexion. Sie sind omnipräsent in den Debatten der Zeit, werden Gegenstand von Hand- und Lehrbüchern, prägen die Gestaltung von Plakaten, Büchern und Fotografien und dienen nicht zuletzt als Embleme der Selbstbeschreibung des Zeitalters, das sich als zerstreutes wahrnahm und die Aufmerksamkeit ganz oben auf die Agenda setzte. Aufmerksamkeit ist dabei keine Selbstverständlichkeit, sondern will erarbeitet werden. Sie ist instabil, volatil und flüchtig und doch ein hohes Gut, um das es sich zu kämpfen lohnt. Die Aufmerksamkeit wird zudem, wie die zahlreichen Beispiele zeigen, in der Moderne und im Zuge der Modernisierung zum Problem. Dabei beschränkt sich die epistemische Unruhe, die hier auszumachen ist, keineswegs auf den Bereich der Arbeit und der industriellen Fertigung, der häufig im Zentrum der theoretischen Überlegungen und auch der konkreten Maßnahmen und Dispositive steht. Sie wächst sich vielmehr aus, greift um sich, bestimmt die Bildpraxis des Fotografierens von Portraits ebenso wie die Rezeption von Musik im Radio, die Lektüre von Texten im Alltag und menschlichen Verhaltensweisen im Allgemeinen. Es geht um Aufmerksamkeit, wenn Hugo Münsterberg über das Kino nachdenkt, wenn Reklame-Psychologie operational gemacht werden soll oder der Umgang mit dem herausfordernden Verkehr in der Großstadt oder der synästhetischen Überforderung der Sinne in ihr beschrieben werden soll. All das – und noch viel mehr – ist Gegenstand dieses Buchs.

Dementsprechend breit und vielfältig sind das Spektrum der Quellen und die Zugänge zum Thema; sie reichen von Georg Simmels klassischem Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“, Wilhelm Erbs Buch Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit von 1893 und Freuds Hysterie-Studien, die zu Beginn des recht umfangreichen Buchs als Seismographien ihrer Epoche gelesen werden, bis hin zu Theodor W. Adornos Überlegungen zum Musikhören. Carolin Duttlinger ist Literaturwissenschaftlerin, und so darf natürlich auch die Literatur nicht fehlen: Zwei Kapitel nehmen Franz Kafka, dem sie bereits ihre überaus instruktive Studie Kafka and Photography gewidmet hat, und Robert Musil in den Blick.3 Weitere gelten Walter Benjamin, der Psychotechnik, der Fotografie der Weimarer Republik (und hier insbesondere durchaus überraschenderweise vor allem der Wiederentdeckung von David Octavius Hill und Robert Adamson sowie dem Portraitwerk von Lerski und Lendvai-Dircksen), dem Musikhören und nicht zuletzt der Ratgeberliteratur der 1920er- und 1930er-Jahre. Eingerahmt wird das Ganze von einer gerafften Darstellung der „Problemgeschichte“ der Aufmerksamkeit von der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert auf der einen Seite und einem perspektivischen Ausblick auf Celan, Sebald und Hoppe auf der anderen.

Das ist ein enorm breites wie reiches Panorama, das kenntnis- und materialreich, durchweg präzise in der Darstellung und mit einer Fülle von Beispielen entworfen wird. Dass hier nicht durchweg Neuland betreten wird, sondern bereits bestehende Darstellungen aufgenommen und zugespitzt werden, versteht sich angesichts der Breite und Heterogenität der Themen von selbst. Während aber in einzelnen Kapiteln, wie etwa jenen über die vielbeforschten Autoren Robert Musil und Walter Benjamin (mit Ausnahme des ungemein erhellenden Blicks auf Dora Benjamins Arbeit für die Ausstellung „Gesunde Nerven“ in Berlin 1929 und ihre Dissertation Die soziale Lage der Berliner Konfektionsheimarbeiterinnen mit besonderer Berücksichtigung der Kinderaufzucht), wenig neues Material vorgestellt werden kann, gilt das etwa für den seinerseits ungemein breit bearbeiteten Franz Kafka nicht. Hier rekonstruiert Carolin Duttlinger nicht nur den durchaus überraschenden Impact, den das Lehrbuch der empirischen Psychologie von Adolf Lindner und F. Lukas auf Kafka und seine Zeit hatte, sondern ruft auch den wenig bekannten Text Kafkas „Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen“ in Erinnerung, um dann auf eindrucksvolle Weise den Resonanzraum des Themas der Aufmerksamkeit in seinen literarischen Texten, aber auch in seiner Korrespondenz und seinen Notaten zu rekonstruieren. Dabei zeigt sie schön auf, dass in seinem Werk eine Entwicklung auszumachen ist: Während Kafka in seinen frühen Texten eine Art von segmentierter Ordnung der Welt mit Zonen der Zerstreuung einerseits und „safe spaces of peace and quiet“ (S. 116) anderseits imaginierte, kollabiert dann diese Zweiteilung; die Welt verwandelt sich in einen bedrohlichen Raum und der Schutzraum in ein Gefängnis. Damit einher geht eine veränderte Ökonomie der Aufmerksamkeit, die sukzessive paranoide Züge annimmt.

Die epistemische Unruhe, die die Frage nach der Aufmerksamkeit in der Weimarer Republik anzeigt, hinterlässt nicht nur ihre unüberlesbaren Spuren in den Werken der behandelten Schriftsteller, sondern auch in der materiellen Kultur dieser Zeit. So haben etwa die Psychophysik und die Arbeitswissenschaft Verfahren und Geräte entwickelt, die Aufmerksamkeit und Zerstreuung überhaupt messbar machen. Beide Momente werden in der Moderne zu vielfach untersuchten Gegenständen wissenschaftlich-empirischer Forschungen, denen es nicht zuletzt um die Entwicklung von Verfahren der Optimierung geht. Zu den schönen Trouvaillen des Buchs von Carolin Duttlinger gehört ein 1923 aufgelegter Katalog der Firma E. Zimmermann, der den schlichten Titel „Psychotechnik“ trägt und wissenschaftlichen Apparaten gewidmet ist, die eigens für diverse Formen von Aufmerksamkeitstests entwickelt wurden. Einige von ihnen werden auch abgebildet, darunter ein „Ergograph“, ein Gedächtnisprüfer und ein Tachistoskop. Wunderbar ist auch das Foto, das die „Große Versuchsanordnung zur Prüfung der Schreckhaftigkeit, Geistesgegenwart und Entschlußkraft“ zeigt, da es wie ein Brennglas die verschiedenen theoretischen wie höchst praktischen Einsätze bündelt. Das Buch hätte insgesamt durchaus etwas reicher bebildert werden können, da viele der detaillierten Darstellungen explizite visuelle Komponenten haben. Die Zurückhaltung hinsichtlich von Abbildungen findet sich allerdings bedauerlicherweise bei vielen kulturwissenschaftlichen Publikationen aus dem englischsprachigen Raum. Als solche verortet sich auch das Buch von Carolin Duttlinger, das sehr unterschiedliche Felder durchmisst und dabei kunstwissenschaftliche und ästhetische Fragen ebenso behandelt wie andere aus der Wissenschafts-, Technik-, Psychologie- oder Literaturgeschichte, um nur einige zu nennen. Es ist interdisziplinär im besten Sinne, da Duttlinger etwa aufzeigt, wie Diskussionen der Psychologie und der Arbeitswissenschaft ihren Widerhall bis hinein in die Literatur finden und sich Musil eben auch mit der Psychophysik beschäftigte und das Konsequenzen auch für seine Literatur hatte. So fügen sich die verschiedenen Kapitel mosaikartig zusammen und ergeben zugleich ein Netz möglicher Bezüge und Verflechtungen.

Während die Kapitel über Selbsthilfebücher und Psychotechnik dank der wunderbar buntscheckigen und zugleich schlagenden Beispiele die wohl anschaulichsten des Buches sind und zugleich den höchst konkreten Zugriff auf den Alltag vor Augen führen, zeigt das abschließende Doppelkapitel über „Musical Listening between Immersion and Detachment“ (S. 317-382) noch einmal in aller Deutlichkeit, dass das Thema der Aufmerksamkeit konsequent auf verschiedenen Registern spielt und eben auch durchweg eine politische Dimension hat, selbst wenn es auf den ersten Blick nur um individuelle Verhaltensweisen geht. An die Stelle einer reinen Kontemplation, die von ihm durchaus als besondere Form der Aufmerksamkeit hätte beschrieben und geschätzt werden können, tritt bei Adorno hingegen eine aktive Praxis, die in ein aktives soziales Engagement münden soll. Auch wenn man eine Komposition von Arnold Schönberg – und vielleicht sogar im Radio – hört, „erheischt“ diese „von Anbeginn aktiven und konzentrierten Mittvollzug; schärfste Aufmerksamkeit für die Vielheit des Simultanen“.4

Die Stärke des Buchs liegt dabei weniger in der filigranen Differenzierung der einzelnen Positionen als vielmehr in dem Nachweis, dass auch politisch, weltanschaulich oder theoretisch extrem unterschiedliche Positionen gleichermaßen von der Sorge um die Aufmerksamkeit umgetrieben waren und sich dadurch durchaus überraschende Bezüge ergeben. Mit anderen Worten: Duttlingers Buch bietet einen profunden Überblick nicht nur über die Debatten der Zeit, sondern auch über ihre konkrete Ausgestaltung in literarischen Texten, Fotobüchern oder wissenschaftlichen Apparaten. Carolin Duttlingers Buch ist eine breit angelegte und ebenso konzise wie sachliche Theoriegeschichte der Aufmerksamkeit in der Moderne, die nicht versucht, Unterschiede der verschiedenen Positionen zu nivellieren, sondern sie vielmehr facettenartig komplementär in einzelnen Kapiteln vorstellt.

Anmerkungen:
1 Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002.
2 So etwa u.a. die Arbeiten von Nora Binder über die Psychologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen Wundt und Lewin, jene von Lukas Held zur Psychologiegeschichte des 20. Jahrhunderts oder von Kevin Liggieri zur Technikanthropologie und Stephanie Kleiner und Robert Suter zur Ratgeberliteratur.
3 Carolin Duttlinger, Kafka and Photography, Oxford 2008.
4 Theodor W. Adorno, „Arnold Schönberg, 1874-1951“, in: ders., Prismen (= Ges. Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt am Main 2003), S. 152f., hier S. 381.

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